Paris, im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts. Ein junger Ingenieur, Jean-Baptiste Baratte, wird an nach Versailles gerufen. Frisch von einer nordfranzösischen Ingenieursschule darf er seinen ersten Auftrag erwarten. Eine Brücke? Ausbesserungen am Schloß? Womit ihn der Minister schließlich beauftragt, – natürlich kann von einem „Angebot“ nicht die Rede sein – ist die Verlegung des Pariser Friedhofes „Les Innocents“ und der Abriss der dortigen Kirche. Keine schöne Aufgabe …
Als er am Friedhof eintrifft und ein Zimmer nimmt, ist es kaum auszuhalten: „Von dem Gestank, der sich durch das offene Fenster hereinstiehlt, hat er bereits etwas im Atem sämtlicher Monnards [seiner Vermieter], im Geschmack ihrer Speisen gerochen. Er wird sich daran gewöhnen müssen, rasch daran gewöhnen oder verschwinden müssen“. Doch in systematischer Manier geht er seine Arbeit an: besorgt sich Bergleute aus der Normandie, Pferdefuhrwerke, lässt die bis zu zwanzig Meter tiefen Armen-Massengräber von ihren Gebeinen zu befreien und neu verfüllen.
Die Handlung des Romanes von Andrew Miller bezieht sich auf einen Prozess, der so tatsächlich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts stattgefunden hat. Vor allem in den Großstädten wurden innerstädtische Friedhöfe mehr und mehr an den Stadtrand verlegt. Aus Gründen der Überbelegung, aus hygienischen Gründen und nicht zuletzt, weil mit der Reformation die Nähe zu den heilsstiftenden Reliquien der Kirchen an Bedeutung verlor. In Berlin entstanden so zunächst der Friedhof vor dem Halleschen Tor (seit 1735) und der Dorothenstädtische Friedhof (seit 1763).
Man kann das Buch einfach als historischen Roman lesen. Doch wie ein guter historischer Roman stellt er keine eigentlich moderne Handlung einfach in eine historische Kulisse. Es macht Spaß, die Situation kurz vor der Französischen Revolution auf sich einwirken zu lassen. Herauszufinden, welche Rolle einzelne Figuren und Figuren einnehmen, welche Metaphern Andrew Miller erfindet. Die anfangs stumpfsinnigen Bergleute, die mit ihrer Arbeit wachsen. Der Organist, der nachts Parolen auf Mauern malt, der nicht der Kirche, aber seiner Orgel nachtrauert. Wem wird der junge Ingenieur sein Herz schenken: dem Dienstmädchen, der Enkelin des Küsters, der Tochter der Vermieter oder der geheimnisvollen Prostituierten?
Gekonnt fängt der Autor in seinem 2011 erschienenen Buch die Stimmung im vorrevolutionären Paris ein. Ein historischer Roman mit Substanz.
Den Friedhof der Unschuldigen gab es tatsächlich einmal. Den entstandenen Platz findet mann heute in der Nähe der Einkaufspassage Les Halles.
Andrew Miller: Der Friedhof der Unschuldigen. Zsolnay 21.90 Euro reservieren / dtv 9.90 Euro reservieren
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