Neue Empfehlungen!

Ulla hat „All die Liebenden der Nacht“ von Mieko Kawakami gelesen. Diese und weitere Buchtipps findet ihr in diesem Beitrag.

„Fuyuko ist Mitte 30 und arbeitet als selbstständige Korrekturleserin in Tokyo. Ihr Alltag ist gleichförmig, isoliert, ohne Hobbies und Interessen, Freundschaften und Familie. Sie ist einsam. Eines Tages wird sie sich schlagartig dessen bewusst. Sie will ihr Leben ändern und sie beschließt zu trinken (wohl auch um ihre Ängste in den Griff zu kriegen). Bald geht sie nicht mehr ohne eine Thermoskanne Sake aus dem Haus. Eines Tages begegnet sie Herrn Mitsutsuka, mit dem sie schüchterne Gespräche führt. Und dann ist da noch ihre Auftraggeberin Hijiri, die mehr und mehr zu einer Freundin wird.

‚All die Liebenden der Nacht‘ ist ein Roman über eine Frau, die eine Randfigur in ihrem eigenen Leben ist. In Rückblenden bekommen wir einen Eindruck davon, wie sie dazu wurde und im Verlauf der Handlung (die ohne besonderen Plot auskommt) erleben wir, wie sie nach und nach Schichten der Isolation ablegt und sich aus ihrem Schneckenhaus herauswagt.

Mieko Kawakami stellt Fuyuko drei weitere Frauenfiguren zur Seite, die alle etwa gleich alt sind, aber ganz unterschiedliche Lebensentscheidungen getroffen haben und auf ihre Weise damit hadern. Dementsprechend ist ‚All die Liebenden der Nacht‘ auch ein Buch über das Leben von Frauen in Japan, einem Land, in dem sich traditionelle Geschlechterrollen eisern halten und von Gleichstellung keine Rede sein kann.“

Aus dem Japanischen übersetzt von Katja Busson.

Ileana hat sich „Babel. Or the Necessity of Violence: An Arcane History of the Oxford Translators‘ Revolution“ von R. F. Kuang vorgeknöpft und ist hin und weg…

„Mit knapp 550 Seiten (die deutsche Ausgabe bringt es auf über 700) ein richtig schöner Sommerwälzer, nein, eigentlich ein Herbstwälzer, Dark Academia eben. Und es wird sehr dark, das kann ich Euch verraten.
Mit Mitte 20 hat die in Guangzhou geborene Amerikanerin Rebecca F. Kuang mal eben DEN Fantasy-Weltbestseller 2022/23 geschrieben (ihr 5. (!!!) Buch). Und das Fantasygenre spielt nur eine untergeordnete Rolle in ‚Babel‘, die Magie ist eine Magie der Sprache, magisch ist, was in Übersetzungen verlorengeht. Genial einfach.

1828: Der Waisenjunge Robin Swift (das ist sein selbsterwählter englischer Name) wird von dem mysteriösen Professor Lovell aus der chinesischen Stadt Kanton nach Großbritannien gebracht und verbringt seine Kindheit unter der Knute des Professors mit dem Studieren von Sprachen für das für ihn vorgesehene Studium in Oxford. Erste Freiheit erfährt Robin, als er sein Studium beginnt und mit seinen Kommilitoninnen Ramy aus Kalkutta, Victoire aus Haiti und Letty, einer weißen britischen Admiralstochter, die (fiktive) Universität für Übersetzungen und Magie, Babel, erkundet. Bald kommt Robin nicht nur den Geheimnissen von Professor Lovell auf die Spur, sondern erfährt den Rassismus des Empires am eigenen Leib und beginnt, sich kritisch mit dem Kolonialismus in der Sprache, in seinem Leben und dem Leben seiner Freundinnen auseinanderzusetzen.

Es war absolut wundervoll, sich in diesem Paralleluniversum zu verlieren, das so nah an unserer Realität entlangschrabbt, so vortrefflich recherchiert ist. ‚Babel‘ ist wie eine Antithese zu Harry Potter, über dessen inhärenten Rassismus/ Antisemitismus ja inzwischen viel geschrieben worden ist. Kein Buch für junge Leser*innen allerdings, eher für die erwachsen und kritisch gewordenen ehemaligen Fans von HP. ‚Babel‘ ist hochintelligent, hochpolitisch, hochakademisch, hochaktuell und höchst mitreißend. Revolutionär ist nicht nur Robin Swifts Geschichte, sondern auch R. F. Kuangs Neudefinition des gesamten Genres.

Toni hat „Zweistromland“ von Beliban zu Stolberg gelesen, das gestern im Kanon-Verlag erschienen ist.

„Die Schriftzeichen tanzten vor meinen Augen. Nie hatte ich mich gefragt, wieso meine Eltern Kurmancî sprachen und wieso ich die Sprache nicht beherrschte. Mit mir sprachen sie Türkisch und Deutsch. Jetzt, als ich im Bett lag und grübelte, kam ich darauf, dass sich hinter dieser Sprache etwas verbarg. Ihr Klang war mir vertraut, aber die Bedeutung der Worte blieb mir verschlossen. Es gab also etwas, zu dem ich keinen Zugang hatte, etwas, das mit dem Leben meiner Eltern zu tun hatte. Ein Leben vor mir.“ (S.128)

In Beliban zu Stolbergs Debüt „Zweistromland“ bewegt man sich still mit der Protagonistin Dilan zwischen inneren Konflikten, einschneidenden Ereignissen und der Suche nach Antworten über Verschwiegenes in ihrer Familiengeschichte. Dilan, die mit ihrem Partner Johan nach Istanbul gezogen ist und ein Kind erwartet, wird durch den Tod ihrer Mutter mit Fragen über die Vergangenheit ihrer Eltern konfrontiert, die ihr niemand beantworten kann und möchte.

Sie ist die Tochter kurdischer Aleviten, die in den 80er Jahren in Diyarbakır lebten.
Die Beerdigung ihrer Mutter, die sie innerlich aufrüttelte, ist der Anlass dafür, dass sie in die Stadt am Tigris reist und sich auf eine Spurensuche begibt. Wie in Trance und ungeachtet jeglicher Gefahren erschließt sie sich von Station zu Station die Lücken in ihrer Erinnerung.

Ein berührendes Buch mit ein paar Leerstellen, die dazu anregen sie für sich selbst im Nachhinein noch zu erschließen.