„ihr Finger schwebte über dem Sendeknopf …“

Wie viel Jonathan Safran Foer, wie viel Paul Auster steckt in deren neuen Romanen? Diese Frage waren in beiden Fällen die „Aufmacher“ längerer Rezensionen. Wenn es nach der Autorin und Filmemacherin Chris Kraus geht, eine banale Frage. Denn, so schreibt sie in ihrem nach nun zwanzig Jahren auf Deutsch erschienenen Buch „I love Dick“,

Der seriöse hetero-männliche Roman unserer Zeit ist ein nur oberflächlich verschleiertes „Meine Geschichte“ und ganz genau so unersättlich verzehrend wie das Patriarchat insgesamt. Während der Held/Anti-Held ausdrücklich der Autor ist, werden alle anderen auf „Figuren“ reduziert.

Und nennt dabei ausdrücklich Paul Auster als Beispiel.

„I love Dick“ erschien 1997 praktisch im Eigenverlag, im Indie-Verlag Semiotext(e) ihres Ehemannes Sylvère Lotringer. In letzter Zeit fand das Buch zunehmend wieder Beachtung, es dient als Vorlage für eine Amazon-Serie und liegt nun erstmals in deutscher Übersetzung vor.

Chris Kraus und Sylvère Lotringer sind auch zwei der drei Hauptfiguren in diesem Buch. Kraus, experimentelle Filmemacherin und Lotringer, Literaturprofessor, lernen in Los Angeles den Kulturwissenschaftler Dick kennen. Aufgrund von Wetterunbilden übernachten sie bei ihm, ohne ihn am nächsten Morgen noch einmal wiederzusehen.
Zurückgekehrt ist Chris einer obsessvien Liebe zu Dick verfallen. Da sie mit ihrem Ehemann eine rein geistige („dekonstruktive“) Beziehung pflegt, findet sie in ihm für die nächsten Tage und Wochen einen Partner, der sich ihrer Emotionen annimmt und mit ihr gemeinsam Faxe an Dick schreibt, ihre Begegnung rekonstruiert und um ein Wiedersehen bittet. Diese Faxe werden nicht abgesendet und wachsen allmählich zu einem Konvolut von mehr als sechzig Seiten an.

Ein klassischer Briefroman also? Diese Frage wird mehrfach im Buch selbst angesprochen und damit bereits relativiert. Lange Zeit wissen Chris und Sylvère nicht, was mit dem Briefkonvolut geschehen soll: soll es „performed“ werden, soll ein Film daraus werden oder soll es als Buch erscheinen, bei einem fremden Verlag oder gleich bei Semiotext(e)? Die Briefe / Faxe sollen nicht nur Realität behaupten, sie sind die Realtiät. Sowohl Chris und Sylvère  sind real, auch Chris‘ Film Gravity & Grace existiert und sogar Dick wurde irgendwann als reale Persönlichkeit identifiziert. Die Frage bei Chris Kraus‘ Roman lautet nicht: wieviel ist hier echt, sondern: wieviel wurde erfunden? Sie schreibt an Dick:

Es ist unmöglich, mit dir schriftlich zu kommunizieren, weil Text wie wir alle wissen, sich selbst verzehren, zu einem Spiel werden.

Die Reaktion Dicks ist für Chris … nicht befriedigend. Und so wird das Schreiben von Briefen an Dick über ein halbes Jahr hinweg zu einem täglichen Mantra, entwickeln sich die Schriftstücke von Briefen zu Tagebucheinträgen hin zu kunstkritischen Aufsätzen. Sie offenbaren Intimität in reiner Form. Nicht die einer Figur, sondern die von Chris Kraus. Ein „Doppelsalto“ also.

Das Buch ist auch das Nachdenken einer 39jährigen Frau über das „Scheitern“ ihrer künstlerischen Karriere und der Dominanz der männlichen Intellektuellen-Szene, des Nicht-Rezipierens, des Totschweigens und der Ignoranz gegenüber weiblicher Kunst. Es beschreibt aber auch die soziale Situation amerikanischer Künstler in den 90er Jahren, den Wandel, den die Gentrifizierung in New York auslöste, die oft prekären Existenzen.

„I love Dick“ ist ein großer Spaß für alle, die eine intellektuelle Herausforderung nicht scheuen. Immer wieder erhält der Erzählstrang eine neue Ebene, tut sich eine neue Dimension auf. Zahlreiche Querverweise machen Lust auf weiterführende Lektüre oder auf Wiederbeschäftigung mit Klassikern der Avantgarde oder dem Kosmos von Strukturalismus, Semiotik oder Dekonstruktion.
Vielen Dank an den Verlag Matthes & Seitz!

i_love_dickChris Kraus
I love Dick
Matthes & Seitz 22.00 Euro
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