Name: Birr. Job: Stadtbilderklärer.

Wovon viele Autoren nur träumen – bei Tilman Birr hat es auf Anhieb geklappt. Sein Buch erscheint in einem großen Verlag, noch dazu als Hardcover. Doch eigentlich wundert das nicht. Tilman Birr ist seit Jahr und Tag in Wort und Text zu Hause: zunächst auf Lesebühnen in Frankfurt am Main, später mit einem eigenen Kabarett-Programm. Und auch in Berlin Lesebühnen- und Slam-Poetry-Autor und ……. Stadtbilderklärer. Aus seinen Erlebnissen als Berliner Stadtführer hat er ein Buch gemacht: On se left you see se Siegessäule – Erlebnisse mit Bayern, die nicht Deutsch sprechen, erbosten Senioren und gelangweilten Schülern …

Was Birr in seinem Buch erzählt ist unterhaltsam. Ja, ja, so sind sie, die Touris.
Doch wie sieht`s mit den Berlinern aus? Tilman Birr hat uns einen Slam-Text über seinem Friedrichshainer Heimat-Kiez zur Verfügung gestellt. Oh weh!

Der Weg zur Bahn (dritte Version)

Ich ziehe die Wohnungstür hinter mir zu. Aus der Einzimmerwohnung nebenan scheppert und dumpft es wieder, denn dort wohnt ein Herr, der eigentlich weniger Herr und mehr Typ ist, und dieser Typ stellte sich mir einst vor mit den Worten: „Ich bin Electro-DJ.“

Armer Typ, dachte ich da. Elektronisches Geumpfe hat sich ja schon in alle Lebensbereiche gefressen, so wie die Treue zum Geliebten Führer in Nordkorea oder der Nationalismus in einem Land, das mit -stan aufhört, und jetzt sogar in meinen Nachbarn. Klassische Wochenendfrage eines beliebigen Bekannten: „Kommst du heute abend mit nach Kreuzberg/Friedrichshain/in so ein stillgelegtes Heizkraftwerk in Köpenick? Da ist Eröffnung von einem Projektraum/die Insolvenzeröffnung meiner Galerie/ein Poetry Slam zum Thema innovative Nachhaltigkeit/eine Bewährungsanhörung/ein guatemaltekisches Kurzfilm- und Ausdruckstanzfestival und danach legt noch ein Electro-DJ auf.“

Nirgends kann man hingehen, ohne befürchten zu müssen, dass danach noch ein Electro-DJ auflegt. In Kneipen, an Currywurstbuden, ja selbst im Park ist man davor nicht sicher. Auf der Friedrichshainer Modersohnbrücke stehen abends zweihundert Leute und trinken Bier und damit das nicht zu entspannt ist, macht es aus einer Anlage Umpfz Umpfz.

Die Herren tragen ein Feinrippunterhemd und einen schmalkrempigen Hut, der aussieht, als hätten sie ihn selbst aus dem Jakett eines Fernsehkommissars der Achtzigerjahre genäht, und geben sich Mühe, schlechtes Deutsch zu sprechen, obwohl sie aus Pirmasens oder Oberhausen kommen.

Ein vorbeilaufender Mittdreißiger in kurzen Hosen, mit Tennissocken in Sandalen, einem karierten Hemd, Oberlippenbart und Schiebermütze wird sofort von einem Mädchen mit Fliegenaugensonnenbrille angemacht, weil sie seinen Aufzug „total stylish“ findet, bis sie merkt, dass er das alles nicht als ironisches Zitat trägt, sondern dass er es ernst meint, denn er ist Gesamtschullehrer aus Bad Salzuflen und jetzt hat er sich verlaufen.

Zum anderen aber ist Electro gefährlich. Wenn endlich alle Gehirnströme gleichgeumpfzt wurden, hüpfen die Elettricacci auf der Hängebrücke im Takt, die Brücke gibt Knarzgeräusche von sich und wenn sie zusammenbricht und eine Handvoll Stylegänger unter sich begräbt, sind wir beim nächsten Trend: kollektiven Unfalltod sterben. Dann kommen die Freunde der verunglückten Electrofreaks und machen aus dem Unfall das, was ihnen am besten gefällt: einen Event. Stundenlang liegen sie einander vor der kaputten Brücke in den Armen, legen Blumen ab, stellen Kuscheltiere, Teelichter und Bilder auf und was auf gar keinen Fall fehlen darf, ist das Pappschild mit der roten Aufschrift: „Warum?“ Ja, warum wohl, Alter! Weil auf einer Hängebrücke 200 Leute im Takt gesprungen sind. Darum! Und das passiert beim Electro hören!

Und wenn jetzt einer kommt und sagt: „Das ist ja geschmacklos“, kann ich nur antworten: Jaja. Geschmack, Geschmack. Aber auf den Karneval der Kulturen gehen, das geht, was? Der Karneval der Kulturen ist nämlich die geschmackloseste Veranstaltung, die es in Berlin gibt. Auf LKWs werden in sicherem Abstand tanzende Menschen aus fernen Ländern zur Belustigung des einheimischen Volkes vorbeigefahren. Daneben stehen Radioreporter und wiederholen die Phrasen, für die sie bezahlt werden: „Berlin ist eine tolerante Stadt. Berlin ist eine tolerante Stadt. Berlin ist eine tolerante Stadt“, während hinter ihnen jemand ganz tolerant „Schwaben raus“ an die Hauswand sprüht.

Vor der Haustür kommt mir eine Nachbarin entgegen und begrüßt mich mit einem sehr gequälten: „Hallo!“ Sie hat mich vor Monaten am Fahrradständer mal nach einer Luftpumpe gefragt und es schien ihr sehr unangenehm zu sein, einen fremden Mann um Hilfe zu bitten. Ihr Subtext ging ungefähr so: „Ey, nicht das du da jetzt was denkst, ja? Also, ich hab da n Problem, ich bräuchte mal ne Luftpumpe. Aber wirklich nur die Luftpumpe. Also, ich will dich hier nicht anmachen oder so, das will ich gleich mal klarstellen. Ich brauche wirklichwirklichwirklich nur mal kurz ne Luftpumpe. Und wenn ich fertiggepumpt habe, will ich, dass du sofort wieder gehst und mich auch nie wieder ansprichst.“

Was ist das für eine grenzenlose Arroganz anzunehmen, dass jeder Mann mit ihr gleich ins Bett will. Hallo! Es gibt auch Männer, die finden dich völlig uninteressant. Schon an der Universität sind mir die Damen auf die Nerven gegangen, die bei jeder Gelegenheit fallenließen, dass sie vergeben sind.

„Hallo. Ist der Platz hier noch frei?“

„Ja, aber ich hab ’n Freund.“

Mann, Mädchen, was glaubst du, was passiert, wenn ich mich hier hinsetze? Das ist hier ’n Hörsaal und kein Swingerclub.

Krankheiten der Stadt: Umpfzlärm, Trendtum und vorauseilende Unfreundlichkeit. Weil man ja nicht weiß, was die Menschen von einem wollen, ist man besser erstmal ein Arschloch. Freundlich sein kann ich später immer noch.

„Tschuldjung, wie komm ich denn zur Schinkelstraße?“

„Kauf dir ’n Stadtplan, du Hurensohn!“

Noch fünfzig Meter zur U-Bahnstation. Aber was soll da schon besser werden? Die Stadt macht krank und plemplem.

In der Tordurchfahrt des Plattenbaus steht ein Lonsdalepulloverträger und uriniert in die Ecke. Eine Rentnerin schaut aus dem Fenster und brüllt:

„He, du Bengel! Samma, machste dit zuhause auch?“

„Nee“, brüllt der Urinierer zurück. „Zuhause piss ick grundsätzlich nich, dafür komm ick immer hier her.“

Vor dem Spätverkauf sitzen die üblichen Trinker. Einer springt auf und geht auf mich zu.

„Wat gibtsn da zu kieken, Alta? Bin ick so hübsch, oda wat?“

„Geht so“, will ich sagen, doch da fährt mir ein Fahrradfahrer in die Hacken und ruft: „Passen Sie doch auf! Sehen Sie nicht, dass ich mit dem Kinderanhänger unterwegs bin“. Hinter seinem Fahrrad hängt ein Plastikanhänger mit langem Fähnchen, darin sitzen zwei Kleinkinder, die sich eines Tages sehr für ihren Vater schämen werden. Aus der U-Bahn kommt eine Frau mit zusammengekniffenen Augenbrauen und schreit: „Ich bin die Miriam aus Marzahn. Meine Hobbys sind rechthaben und sauer sein.“ Ein Mann von einer Spendenorganisation mit einem Klemmbrett in der Hand springt mich an und ruft: „Allein in Berlin leben über 160.000 Analphabeten. Besonders traurig: die meisten davon sind Kinder unter 6 Jahren. Spenden Sie jetzt.“ Der Lonsdalemann, die Rentnerin und meine Nachbarin tauchen auf. Die Nachbarin kreischt: „Ich hab n Freund! Ich hab n Freund! Ich hab n Freund! Aber deine Luftpumpe nehm ich.“

Plötzlich ist da ein Typ mit zwei großen Koffern und baut zwei Plattenspieler auf. Ich schreie und reiße mich los, stolpere gegen die Rentnerin, sie zerplatzt wie eine Seifenblase. Zurück bleibt ein Häkeldeckchen mit dem eingestickten Satz: „Das ist kein Fahrradweg.“ Ich muss alle nur leicht antippen, schon zerplatzen sie. Vom Trinker bleibt eine Sternburgflasche, vom Lonsdalemann ein Landser-Heft, vom Ökovater ein Erzhiehungsratgeber mit dem Titel: „Ich hätte nie gedacht, dass Deutschland wirklich so kinderfeindlich ist.“

Alle sind weg. Die Wände hängen voller Fleischfetzen. Der DJ sagt: „Ey, viel zu leise hier“ und fängt an, Electro aufzulegen.

Die Bahn kommt. Ich steige nicht ein. Es ist Nacht geworden. Müde gehe ich zum Libanesen. Als er mich sieht, fragt er: „Wie immer?“. Ich nicke und er bereitet mir ein Schawarma zum Mitnehmen. Die Stadt macht krank und plemplem. Aber sie ist der einzige Ort, an dem man nachts noch etwas zu essen bekommt.

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Wer Tilman Birr live erleben will, kann das jeden 3. Dienstag beim Saalslam in Neukölln und jeden 2. Sonntag bei der Lesebühnen Ihres Vertrauens in Frankfurt am Main tun.

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Tilman Birr

On se left you see se Siegessäule
Manhattan 16.99 Euro

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Homepage: www.tilmanbirr.de

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