Einmal Oberhavel bitte!

[singlepic id=280 w=240 h=180 float=left] Brandenburg ist schon dumm dran. Da möchte der Millionenstädter irgendwann einmal etwas anderes erleben als das, was ihn tagtäglich umgibt. Und er fährt raus aus der Stadt und erlebt tatsächlich etwas anderes. Etwas, was man natürlich nicht unbedingt haben will. Und das ist dann … Brandenburg. Hätte es dieses Bundesland nicht leichter, wenn es unerkannt an ganz anderer Stelle läge, zum Beispiel, da wo Sachsen ist und Sachsen Berlin umgeben würde?

In seiner Berliner Lieblingslokal erzählt der Reporter beim Champagner, er würde demnächst für ein paar Monate verschwinden, nach Norden, in eine brandenburgische Kleinstadt. Sich umsehen, dem Blödsinn zuhören, allerlei erfahren über Hartz IV und Nazirock und so. Er wird sich auch einen Boxclub suchen, um an die Leute ranzukommen.

In Oberhavel trinkt man Bier, eine schöne Molle. Im Schröder. Im Schröder lernt der Reporter seine neuen Freunde kennen. Da ist vor allem Raoul, der sich des Stadtmenschen annimmt und ihm gern seine Heimatstadt erklärt. Raoul, so eine Art Punk, hat auch eine Band, 5 Teeht Less, zu der auch sein Bruder Eric sowie Rampa und Crooner gehören.

Moritz von Uslar: Deutschboden

© Andreas Mühe und Kiepenheuer & Witsch

Allein oft mit wenig Erfolg, häufiger dagegen mit Raoul erkundet der Reporter über drei Sommermonate hinweg die Stadt Oberhavel, die in Wirklichkeit anders heißt. Er lernt den guten Ton der Kneipen kennen, der Grillfeste, der Proben von 5 Teeth Less in der alten Schule von Kurtschlag, er boxt im örtlichen Sportclub, dreht Stadtrunden im Astra, fährt nach Aral.

[singlepic id=278 w=160 h=120 float=right]Moritz von Uslar ist ein guter Beobachter. Sein Alter Ego, der Reporter, hört genau hin, nimmt manchmal seinen ganzen Mut zusammen, stellt Fragen, „die jetzt gestellt werde müssen“, ohne die Grenze zum Voyeurismus zu überschreiten. Nimmt die Abstufungen wahr, Codes, Gesten, Styles. Erkennt bei Aral die Grenze zwischen den 25- und den 20jährigen, die 1989 heißt. Das Ritual des Abhängens, des Zeit-Verplemperns, Zeit-Dehnens, das es schon vor gut fünfzig Jahren gab.
Trotz allem Nichts-Tun entwickelt der Text einen Sog: wie geht es weiter? Was passiert noch? Wie ist das Fazit? Gekonnt beleuchtet von Uslar Gruppen, die in Büchern nur selten Aufmerksamkeit erfahren. Unvoreingenommen. Knüpft an vielleicht bei Clemens Meier und „Als wir träumten“.

Der Reporter hätte auch die örtliche Kultur-Elite besuchen können, hätte im Backstein am Satire-Abend teilnehmen, ein feines Linsen-Meerrettich-Süppchen genießen, bei einer gemütlichen Tasse Cappuccino die taz lesen können. Aber hätte er dazu seinen Berlin Kokon verlassen müssen? Der Reporter ist etwas enttäuscht: „ganz gleich wo man hinkam, Kultur und Geschmack und Feine-Kräuter-Kenner waren schon immer vor einem angekommen.“ Wie war doch sein Masterplan?

„Weniger erleben, nichts erleben, herunterfahren, sich von dem Wenigen ungleich mehr beeindrucken, ja am besten richtig aus der Fassung bringen lassen. Das Nichts angucken und im Nichts die Zusammenhänge erkennen. Wow.“

Und wie das Boxen ausgeht? Selbst lesen!

Moritz von Uslar: Deutschboden Moritz von Uslar
Deutschboden.
Eine teilnehmende Beobachtung

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Moritz von Uslar, Jahrgang 1970, war Redakteur bei SZ-Magazin und beim Spiegel, arbeitet jetzt bei der ZEIT. Er veröffentlichte Theaterstücke, Interviews und 2006 den Roman Waldstein oder der Tod des Walter Gieseking am 6. Juni 2005.
2009 verbrachte Moritz von Uslar drei Monate in „Oberhavel“. Im Vorwort zu seinem Buch heißt es: „Ich bin als Fremder gekommen und als Einheimischer gegangen. Die Zeit in der Kleinstadt war eine der besten meines Lebens.“

Moritz von Uslar las liest heute, am 09.11.2010, 20.00 in Berlin in der Galerie Vittorio Manalese, Helmholtzstraße 2-4 . Mit der Band 5 Teeth Less und DJ Fetisch. Eintritt frei.